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Das lernen Unternehmen von Spotify

Selbstorganisation, Entscheidungsfindung und Fehlerkultur in Unternehmen - Eine entscheidende Maxime bei Spotify lautet: „Don’t ask. Do.“
Anne M. Schüller | 29.06.2020
Das lernen Unternehmen von Spotify © Freepik
 

Die Corona-Krise zwingt viele Anbieter dazu, sich neu aufzustellen, um fit für eine ungewisse Zukunft zu werden. Das betrifft sowohl die Geschäftsmodelle als auch die organisationalen Strukturen. Von jungen Unternehmen kann man hierzu eine Menge lernen. Dies möchte ich am Beispiel des schwedischen Streamingdienstes Spotify, der derzeit rund 4.500 Mitarbeiter beschäftigt, zeigen.

Das Spotify Tribe Model ist ein agiles System mit Squads, Tribes, Chapters und Guilds. So funktioniert es: Die Beschäftigten arbeiten in sich selbst steuernden interdisziplinär besetzten Trupps (Squads) mit sechs bis zwölf Mitarbeitern, die auf Branchen, Kunden oder Produkte ausgerichtet sind. Sie sind von der Entwicklung und Umsetzung bis zur Kommerzialisierung ihrer Idee selbst verantwortlich.

Jedes Squad hat einen gewählten Squad-Lead, eine Art Business-Manager, der die Belange des Teams vertritt. Mehrere Squads bilden einen Stamm (Tribe) mit einem Stammesführer, dem Tribe-Lead. Dieser achtet unter anderem darauf, dass die Squads reibungslos miteinander interagieren. Ein Tribe hat maximal 150 Mitarbeiter, sie alle arbeiten im selben Bürobereich an verwandten Projekten.

Gleiche Berufsgruppen wie etwa Web-Designer, die in verschiedenen Squads arbeiten, verbinden sich innerhalb eines Tribes zu Verbänden (Chapter). Ferner bilden sich Gilden. Das sind freiwillige Communitys, in denen sich Mitarbeiter über die Tribes hinweg miteinander vernetzen und einen interessengeleiteten Austausch pflegen.

 

Selbstorganisation: in der neuen Businesswelt favorisiert

Derart sich selbst organisierende Mitarbeiterteams sind aus vielerlei Gründen ein favorisiertes Zukunftsmodell. Sie sind den rasch aufkommenden und zunehmend unvorhersehbaren Anforderungen der Wirtschaft besser gewachsen als die zentralistisch und anweisungsorientiert geführten Teams alten Stils.

Die parallele Einführung agiler Arbeitsmethoden sorgt für eine hohe Flexibilisierung und beschleunigte Arbeitsweisen. Die Führung gibt dabei nur noch die grobe Marschrichtung vor. Und sie definiert Grenzen, die wie die Umrandung eines Fußballplatzes den groben Rahmen des Zusammenspiels definieren.

In selbstorganisierten Unternehmen werden Projektmärkte eingerichtet, damit sich jeder aus eigenem Antrieb dort einbringen kann, wo seine Talente den meisten Nutzen stiften. Hierdurch erlebt man Selbstwirksamkeit und erlangt Bedeutung. Sehr schnell kommt es zu einer fachlichen, menschlichen und motivatorischen Stärkung des Einzelnen. Wie von Fesseln befreit wird eine enorme Energie freigesetzt.

Weitere willkommene Nebeneffekte: Das Verständnis für Gesamtzusammenhänge im Unternehmen wächst, das unternehmerische Denken wird angeregt, der Wissenshorizont und die Expertise werden erweitert. Verbesserungsideen, die den eigenen Bereich betreffen, werden im Team besprochen, entschieden und umgesetzt, dazu braucht es weder Aufpasser noch den Segen von oben.

 

Zügige operative Entscheidungen sind in Zukunft elementar

Die behäbigen Entscheidungsprozesse in klassischen Unternehmen sind dem Tempo unserer Hochgeschwindigkeitsökonomie nicht gewachsen. Bahnbrechende Innovationen kommen nun sprunghaft, am laufenden Band und wie aus dem Nichts. Um damit Schritt halten zu können, ist auch eine Transformation der Entscheidungskultur elementar.

Das Delegieren von Entscheidungen in die nächsthöhere(n) Hierarchiestufe(n) im Unternehmen war zu Zeiten von Stabilität, Vorhersagbarkeit und Kontinuität allgemein üblich – und wohl auch möglich. Ist das Umfeld hingegen komplex, wird solches Vorgehen zum Flaschenhals einer Organisation.

Vormarsch, Zukunftsfähigkeit, Kundenorientierung, individualisierte Dienstleistungen und hohes Tempo sind nur dort machbar, wo zwischen Entscheidung und Umsetzung möglichst wenig Zeit vergeht. Wo alles ewig die Silos rauf und runter wandert, ist das nicht zu machen.

Bei Spotify sieht man das so: Ein guter Mitarbeiter trifft in 70 Prozent aller Fälle dieselben Entscheidungen wie sein Chef. Zu zehn Prozent liegt er daneben. Und zu 20 Prozent fällt er bessere operative Entscheidungen, weil er näher dran ist und von einer Sache oft mehr versteht. Eine entscheidende Maxime bei Spotify lautet deshalb: „Don’t ask. Do.“

Fast alle operativen Fragestellungen kann ein Team besser und vor allem auch schneller beantworten als ein Manager weit weg vom Schuss. „Kompetenzen und Verantwortung zusammenführen“ nennt man dieses Prinzip. Wer das Ohr ständig am Markt hat, hat zudem auch ein gutes Gespür dafür, was das nächste große Ding werden könnte.

 

Wie man eine fehlertolerante Lernkultur etabliert

Wer Neues wagt, der muss auch Scheitern dürfen. Alle Beteiligten in Innovationsprojekten brauchen deshalb das, was man „psychologische Sicherheit“ nennt: den geschützten Raum einer fehlertoleranten Experimentierkultur. „Better done than perfect“, „Good enough for now“ und „Safe enough to try“: Solche Ansätze aus der Startup-Welt sind dafür bestens geeignet.

Lieber testen, ausprobieren, nachjustieren – und nicht warten, bis alles perfekt ist, denn perfekt ist es nie. Und wenn man am Ende mit seinem Versuch völlig falsch lag? Dann hat man immer noch etwas gewonnen: Erfahrung plus die Erkenntnis, dass die ursprüngliche Vorgehensweise die richtige war.

Allerdings ist unter Selbsterhaltungsgesichtspunkten das Fehlerverschweigen für einen Mitarbeiter die bessere Wahl. Für ein Unternehmen hingegen wäre es das Beste, alle Beschäftigten würden ihre Fehler – und dabei besonders die gravierenden – schnellstmöglich offenlegen.

Bei Spotify gibt es zu diesem Zweck sogenannte Fail-Walls. Dort können die Mitarbeiter sichtbar machen, was ihnen misslungen ist, damit das nicht wieder passiert. „Wir wollen Fehler schneller als alle anderen machen.“ So erklärt Daniel Ek, der Gründer von Spotify, eins seiner wesentlichen Erfolgsrezepte auf seinem rasanten Weg zur Marktführerschaft.

 

Blaupausen für Transformationsprozesse kann es nicht geben

Gibt es Patentrezepte für ein Redesign von Unternehmensstruktur und -kultur? Nein, die gibt es nicht. Business-Situationen sind verschieden, also müssen es auch die Methoden sein. Reines Kopieren ist sogar höchst gefährlich. Denn keine zwei Unternehmen sind gleich.

Branchen und Märkte sind genauso individuell wie Geschäftsmodelle und Kundenstrukturen. Die Unternehmensgröße spielt eine Rolle. Landestypische Gegebenheiten und kulturelle Besonderheiten sind zu beachten. Restriktionen, die einem Unternehmen durch Gesetze, Behörden, Börsenvorschriften, Investoren und Anteilseigner auferlegt werden, müssen berücksichtigt werden.

Folglich muss jedes Unternehmen seinen eigenen Weg finden. Natürlich macht es Sinn, sich von Vorreitern inspirieren zu lassen. Außerdem können Pioniere wertvolle Denkanstöße liefern. Doch methodenhörig und gedankenlos nacheifern darf man ihnen nicht. Was bei dem einen großartig funktioniert, kann anderswo grandios scheitern.

Das Tribe-Modell hat sich bei Spotify organisch entwickelt und wird auch verändert, um den sich ständig wandelnden Marktgegebenheiten zu entsprechen. Keinesfalls kann es auf eine tradierte Großorganisationen eins zu eins draufgepfropft werden. Allerdings kann man in einzelnen Bereichen oder in Ausgründungen damit experimentieren, um Prototypen für eigene passende organisationale Strukturen zu schaffen.

 

Das Buch zum Thema –auch als Hörbuch erhältlich

Anne M. Schüller, Alex T. Steffen
Die Orbit-Organisation
In 9 Schritten zum Unternehmensmodell
für die digitale Zukunft
Gabal Verlag 2019, 312 Seiten, 34,90 Euro
ISBN: 978-3869368993
Finalist beim International Book Award 2019

 

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Über Anne M. Schüller

Anne M. Schüller ist Keynote-Speaker, Bestsellerautorin und Businesscoach. Sie gilt als eine der Top-Experten für Touchpoint Management in Europa.