Marketing-Börse PLUS - Fachbeiträge zu Marketing und Digitalisierung
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Digitalisierung versus Kundenbindung?

Eine zu weitgehende Digitalisierung kann Kunden verschrecken. Digitale Services sind billiger und zuverlässiger, aber schwach in der Kundenbindung.
Hermann Simon | 04.03.2019
© Simon-Kucher & Partners
 

Dienstleistungen sind traditionell personal- und damit kostenintensiv. Wegen der hohen Personalintensität ist zudem ein permanenter Kostenanstieg vorprogrammiert. Was liegt da näher, als Services in höchstmöglichem Maße zu automatisieren und zu digitalisieren? Menschliche Dienstleistung wird durch digitalisierte Dienstleistung ersetzt. Um die Konsequenzen beurteilen zu können, muss man zwischen Services, bei denen der Kontakt mit einer Person zentral ist, und solchen, bei denen nur ein Kontakt mit Systemen oder Maschinen abläuft, unterscheiden. Zu letzteren gehören beispielsweise Fernwartung, elektronische Überweisung oder Hotelbuchung. Im Folgenden beschäftigen wir uns mit der Kategorie, in der eine Person, in der Regel ist das ein Kunde, im Spiel ist. Dazu gehören beispielsweise komplexe Anliegen wie Reklamationen, Anlageberatung, medizinische Interaktion oder sogar Terminvereinbarung, falls damit etwa Eilbedürftigkeit oder besondere Anforderungen verbunden sind.

Digitaler vor persönlichem Service

Der Übergang vom persönlichen zum digitalen Service wird heute primär, oft ausschließlich, unter Kostenaspekten beurteilt. Diese Beurteilung geht praktisch immer zu Gunsten der digitalen Variante aus. Es kommt hinzu, dass sich die Einsparungen in harten Zahlen belegen lassen. Zudem fallen viele Beschränkungen bei digitalen Services weg. Sie sind rund um die Uhr verfügbar, es gibt keine Ausfälle wegen Krankheit, auch Launen von Mitarbeitern kommen nicht vor. Die Künstliche Intelligenz (KI) ermöglicht Stimmerkennung, personalisierte Antworten und sogar Leistungen, die besser sind als die von schlecht ausgebildeten oder unwilligen Mitarbeitern erbrachten. Die Maschine ist immer gleich kompetent und gleich gut gelaunt. Es spricht also in der Tat vieles dafür, Dienstleistungen im maximal möglichen Umfang zu digitalisieren. Und ich denke, dass dies genau der Trend ist, den wir derzeit erleben. Die Abbildung 1 zeigt die beim Übergang von der persönlichen zur digitalen Dienstleistung typischerweise auftretenden Wirkungen. Copyrights: Simon-Kucher & Partners Wirkung der Digitalisierung von Dienstleistungen

Kundenbindung durch persönlichen Kontakt

Der entscheidende Punkt besteht darin, dass der persönliche Kontakt zwischen Mitarbeiter und Kunde bei der Digitalisierung verlorengeht. Was dieser Kontakt kostet, lässt sich in der Regel mehr oder weniger genau berechnen. Welchen Einfluss hingegen die persönliche Interaktion auf die Wertwahrnehmung, die Zahlungsbereitschaft und die Treue des Kunden ausübt, lässt sich nur ungeheuer schwer quantifizieren. Zudem sind diese Faktoren von Mitarbeiter zu Mitarbeiter und von Kunde zu Kunde verschieden. Persönliche Dienstleistungen zeichnen sich zwangsläufig durch Variabilität aus. Jedoch entfällt mit dem Verlust des persönlichen Kontaktes ein entscheidendes Element der Kundenbindung. Einen Automaten wechselt man leichter aus als eine Person, die man kennt und der man beim Empfang der Dienstleistung ins Auge sieht oder deren Stimme man hört. Die Kunden werden durch die Digitalisierung zudem preisbewusster, damit nimmt die Preiselastizität zu. Diese Effekte werden durch die im Internet radikal erhöhte Preistransparenz massiv verstärkt. Einerseits ist es für den Kunden ein Leichtes, Preise online zu vergleichen, andererseits wird die Stimme, die ihm per Maschine antwortet, beliebig austauschbar. Eine Differenzierung der digitalisierten Dienstleistung fällt schwerer als eine solche auf der persönlichen Mitarbeiterebene.

Ältere bevorzugen den persönlichen Kontakt

Wegen dieser gegenläufigen Effekte von Kosten und Kundennutzen/Kundenbindung ist ein vorschneller und zu radikaler Übergang vom persönlichen zum digitalisierten Service zu vermeiden. Die Tatsache, dass Kundengruppen sehr unterschiedlich auf digitalisierte Angebote reagieren, untermauert diese Empfehlung. Nicht überraschend sind diesbezüglich Befunde aus diversen Projekten von Simon-Kucher & Partners in Branchen wie Banken, Telekommunikation, Fluggesellschaften und selbst industriellen Dienstleistungen. So ist es keine Überraschung, dass die Bereitschaft, digitale Services zu akzeptieren, stark mit dem Alter korreliert. Jüngere sind diesbezüglich wesentlich offener als ältere Kunden. Wir stellten zudem wiederholt fest, dass Kunden in höheren Preissegmenten stärker persönliche Dienstleistungen bevorzugen. Das kann soweit gehen, dass digitale Services in diesen Segmenten regelrecht abgelehnt werden oder zu massiver Verärgerung bis hin zum Kundenverlust führen. Entscheidend ist allerdings, ob der Kunde für den persönlichen Service zu zahlen bereit ist. Denn Wert hat dieser Service, der ja unvermeidbar höhere Kosten verursacht, nur, wenn er beim Kunden eine höhere Zahlungsbereitschaft erzeugt. In der modernen Internetwelt spricht man von „Monetarisierung“. Eine äquivalente Wirkung kann in erhöhter Kundentreue bestehen. Auch wenn bei persönlichem Service mehr nachgefragt wird, zum Beispiel durch effektiveres Cross Selling, können sich die höheren Kosten amortisieren.

Integration von digitalem und persönlichem Service

Eine große Herausforderung besteht in der Integration von digitalem und persönlichem Service. Manche Systeme starten den Kundendialog mit digitalisiertem Service, bieten aber die Möglichkeit, zu einem Mitarbeiter durchzuschalten. Interessant ist dabei die Erweiterung zu einer Videoübertragung, bei der der Kunde den Mitarbeiter auf dem Bildschirm sieht. Diese Methode wird, wie Abbildung 2 zeigt, von dem Möbelhändler Butlers eingesetzt. Copyrights: Simon-Kucher & Partners Kombination von digitalem und persönlichem Service Ein mögliche Lösung besteht auch darin, digitalen und persönlichen Service als Alternativen anzubieten, dabei jedoch differenzierte Preise zu verlangen. Der digitale Service kann beispielsweise kostenfrei sein, für den persönlichen Service ist eine Gebühr zu entrichten. In der Praxis trifft diese Strategie allerdings häufig auf Widerstände. So hat die Deutsche Bahn versucht, eine Gebühr beim persönlichen Kauf von Fahrkarten zu erheben, während beim Automatenkauf eine solche nicht anfiel. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der Kunden. Ähnliche Erfahrungen machten Banken bei Barabhebungen mit persönlicher Bedienung im Vergleich zur Gratis-Auszahlungen am Bargeldautomaten. Auf einen Aspekt will ich besonders hinweisen, weil er - jenseits aller Inhalte – in der digitalen Welt nicht existiert. Ich meine die Emotionen, die aus der persönlichen Interaktion entstehen. Hierbei geht es auf Seiten des Mitarbeiters vor allem um das Thema Freundlichkeit. Je austauschbarer ein Produkt ist, desto wichtiger wird Freundlichkeit. Und wenn man ohnehin Mitarbeiter einsetzt, deren Kosten also fix sind, dann gilt selbst im digitalen Zeitalter der folgende Spruch: „Freundlichkeit kann ich mir leisten, sie kostet nichts und bringt am meisten.“

Fazit

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass der Übergang vom persönlichem zum digitalen Service sorgfältig zu überlegen ist. Eine voreilige oder zu weitgehende Digitalisierung von Dienstleistungen als Antwort auf den Kostendruck kann unangebracht sein. Vielmehr sollte die Nutzenseite des Kunden genauso in die Entscheidung einfließen wie die Kosten, obwohl der Nutzen schwerer messbar ist. Letztlich muss der persönliche Service beim Kunden eine höhere Zahlungsbereitschaft erzeugen. Zudem sollte man die Kundenbindungspotenziale, die durch die Digitalisierung gefährdet werden bzw. durch den persönlichen Service bewirkt werden, nicht unterschätzen. Unausweichlich ist die Quantifizierung des Kundennutzens. Denn nur dann lassen sich Kosten- und Erlöswirkung von digitalem und persönlichem Service gegeneinander abwägen. Die Kombination von beiden bildet eine interessante Alternative. Copyrights: Campus-Verlag Weitere Erkenntnisse von Hermann Simon finden Sie in seinem Buch „Zwei Welten, ein Leben“, erschienen beim Campus-Verlag.