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Das digitale Double - Avatare im Marketing

Inzwischen setzen immer mehr Unternehmen Avatare im Marketing ein, weil die Vorteile so offensichtlich sind. Praxisbeispiele und Grenzen.
Frank Puscher | 24.02.2021
Die Macher des Neon-Projekts sehen viele unterschiedliche Einsatzbereiche für die Nutzung eines Avatars, der zum Beispiel an ein Dialogsystem angeschlossen ist © Screenshot
 

Der Lockdown und Social Distancing haben die Musikbranche verändert. Immer mehr Künstler versuchen Menschen mit Hilfe eines digitalen Doppelgängers zu unterhalten. Inzwischen setzen immer mehr Unternehmen Avatare im Marketing ein, weil die Vorteile so offensichtlich sind.

Die Customer Journey hat sich verändert. Durch die vielen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Menschen, haben sich der Bildschirm und das Internet zwischen den Endkunden und den Anbieter gedrängelt und das in Branchen, die bislang weitgehend immun gegen Digitalisierung schienen, allen voran das Konzert- und Eventwesen. Nichts kann die physische Begegnung zwischen dem Künstler und seinem Publikum ersetzen. Wirklich?

Der aktuell prominenteste Künstler, der bereits das Gegenteil bewiesen hat, ist The Weeknd. Der Sänger des Tophits Blinding Lights und Halbzeit-Act beim Superbowl, trat letztes Jahr in Tiktok auf. Und zwar nicht als Video, sondern live. Und zwar nicht er persönlich, sondern sein digitales Double. Der Künstler selbst performte im Studio vor Greenscreen, während ihn das Publikum auf einer virtuellen Bühne sah. Da das Event live stattfand, konnten die Zuschauer mit dem Künstler und er mit ihnen interagieren. „Küss einen Frosch“ lautete ein Vorschlag aus der Audience.

„Avatare sprengen die physikalischen Grenzen“, meint Hermione Flynn, die mit ihrer Firma Mimic Productions von Berlin aus 3D-Repräsentanten erstellt. Beim Konzert von The Weeknd sang der Künstler beispielsweise unter Wasser. Die US-Sängerin Mandy Beer wurde von Sony in einen nicht existenten Konzertsaal projiziert. Am Deutlichsten werden die erweiterten Möglichkeiten aber bei den Rappern von 100Gecs. Die haben keine realitätsnahen Doubles von sich erschaffen lassen, sondern Klötzchen-Figuren für das Spiel Minecraft. Dort standen Sie auf einer Klötzchenbühne und interagierten mit den Klötzchen-Avataren des Publikums. Kommt das bekannt vor? Richtig, es ist die Wiederauferstehung des Gedankens von Second Life.

Was hat das mit Marketing zu tun? Jede Menge.

Zunächst das Offensichtliche: Der Avatar eines prominenten Testimonials kann zum Einsatz kommen, wenn der Prominente persönlich keine Zeit hat, an einem anderen Ort weilt, krank ist oder die Reise zu teuer wäre. Der große Unterschied zu einer Video-Grußbotschaft, wie man sie heute meistens unter solchen Voraussetzungen einsetzen würde, ist die Tatsache, dass der Avatar sich weitgehend in die Szene integrieren lässt. Deshalb der Greenscreen. Der Avatar tritt „freigestellt“ auf, also ohne Hintergrund und Umgebung. Diese lassen sich am Computer beliebig dazu mischen.

Die Modemarke MCM fotografierte ihre aktuelle Sommerkollektion in einem Greenroom. Die unterschiedlichen Hintergründe – zum Beispiel eine Wüstenlandschaft – wurden digital montiert. Ob digitalisierte Video- und Fotoaufnahmen tatsächlich den Namen Avatar verdienen, darüber streiten die Experten. Das tut aber nichts zur Sache. Fakt ist: Anders als beim Video- und Foto-Shooting lässt sich die digitalisierte Aufnahme nachträglich grundlegend verändern, eben so, wie die jeweilige Maßnahme, Kampagne oder der gewählte Kanal das brauchen.

Eine andere Form dieses „Freistellers“ findet in Social Media Anwendung. Sie ist die Grundlage für Augmented Reality. Wenn zum Beispiel Dax Newman oben ohne an seiner Töpferscheibe sitzt und sich dabei im Greenroom filmen lässt, dann kann man aus diesem Video einen AR-Filter machen. Benutzerinnen können sich Dax nachhause ins Wohnzimmer holen. Die Interaktion mit dem Content entsteht durch die Mischung des videografierten Materials und dem Livebild aus der Smartphone-Kamera.

Treibt man diesen Ansatz eine Stufe weiter, so kann man jeden Künstler, jedes Model oder jeden prominenten so in immer andere Szenarien integrieren. Und zwar so, dass es nicht wirkt, also würde ein Video auf der Leinwand im Onlinespiel laufen, sondern so, als wären die Protagonisten selbst oder deren Stellvertreter tatsächlich „drin“.

Joe Biden hat sich digitalisieren lassen. Er tauchte letzten Herbst im Onlinespiel Farmville auf, um bei den virtuellen Bewohnern Wahlkampf zu machen. Natürlich passt eine realistische Simulation des US-Präsidenten nicht in die Comic-Landschaft von Farmville, also wurde aus dem Präsidentschaftskandidaten halt eine Comic-Figur gemacht. Und natürlich wählen die virtuellen Bewohner von Farmville nicht selbst, aber sie sind ja auch nur Stellvertreter ihrer Schöpfer und die verbringen viel Zeit in diesem Spiel. Hier gilt die goldene Marketing-Regel: Follow the Eyeballs. Und bei vielen jungen Zielgruppen ist TV dafür nicht mehr der geeignete Kanal.

Genies heißt eines der zahlreichen Unternehmen, die sich in diesem Markt gerade einen Namen machen. Jeder kann seinen eigenen Genie Erstellung und auf virtuelle Reise schicken. Genie agiert unabhängig von einzelnen Plattformen, wobei die Avatare mit den großen Köpfen schon eine ganz eigene Anmutung haben.

Der echte Stellvertreter

Es ist also leicht zu verstehen, warum Hermione Flynn der Auffassung ist, dass sich über kurz oder lang jeder Prominente digitalisieren lässt und zu bestimmten Projekten und Aufträgen seinen Avatar schickt. Der Avatar ergänzt das hochauflösende Pressefoto.

Schaut man sich eine Kampagne an, die Mimic Productions für Audible umgesetzt hat, kann man einen weiteren Mehrwert erkennen. In einem ersten Video wurde der Thriller-Autor Sebastian Fitzek so in Szene gesetzt, dass sich sein Kopf live vor der Kamera verwandelte. Bildlich gesprochen ergriff sein Inneres von ihm Besitz. Ein Dr. Jekyll und Mr. Hide Effekt.

Der Produktionsaufwand für eine reine Videoproduktion wäre enorm. Stundenlang müsste Fitzek in der Maske sitzen und sich schminken lassen. Verändert man aber nur sein digitales Abbild, so reicht es, wenn man Fitzek einmal die Szene drehen lässt. Der Rest ist Animationshandwerk. Auf einmal werden aufwändigste Spezialeffekte auch Produktionen zugänglich, die nicht über ein großes Budget verfügen.

Es gibt also zwei wesentliche Anwendungsszenarien für 3D-Modelle: Die Verlagerung der Location, raus aus dem Studio rein in die Konzerthalle (z.B. als Hologramm) oder ins Onlinespiel. Das kann live geschehen oder aus der Konserve. Mandy Beer wird ein Top Act auf der Playstation 5. Ihr virtualisiertes Konzert kann in Virtual Reality genossen werden.

Zweitens ist die Digitalisierung die Voraussetzung für Verfremdungen, die über das Realistische hinausgehen. Das gilt für die Augmented Reality Anwendung genauso, wie für den Monsterbefall von Fitzek.

Die Königsdisziplin im 3D-Business ist dann der nächste Schritt. Das ist eine universell einsetzbare 3D-Figur, die sich völlig frei verändern lässt. Eine Art digitale Barbie-Puppe. Kendal Jenner hat so eine und die hat sie der Marke Burberry zur Verfügung gestellt. Die Marketer von Burberry bestimmen am Rechner nicht nur, welche Kleidung Kendall trägt und ob die Sonne im „Foto“ scheint. Sie können auch die Pose und die Mimik des digitalen Doppelgängers verändern. Anders als bei MCM kann der Avatar von Kendal Jenner auch für viele weitere Kampagnen in der Zukunft eingesetzt werden.

Mit Standbildern kennt man das schon von den virtuellen Influencern wie Lil Miquela oder Shudu. Die nächste Stufe ist das Video. Was wäre, wenn eine Marke wie Knoppers ihrem neuen Testimonial Thomas Müller jedes Zitat in den Mund legen könnten, das zum Beispiel gerade auf bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge eingeht. Und das, ohne Müller zu treffen. Und das als Video mit Bild, Bewegung und Ton.

Genau daran arbeitet gerade die Animationswelt. Die Animationsmaschinen werden an KI-Systeme angeschlossen, die zum Beispiel einen geschriebenen Text so auf das 3D-Modell übertragen, dass daraus ein Video entsteht. Deep Fake nennen das die Kritiker, und vermutlich tut man gut daran, einen Avatar auch als solchen zu kennzeichnen.

Eine der spannendsten Entwicklungen in diesem Bereich kommt aus dem Hause Samsung. 2020 stellte man auf der CES in Las Vegas ein Projekt namens Neon vor. 2021 ist Neon eine eigene Firma und ihre Software läuft schon als privater Beta-Test. Es gibt eine Handvoll fertiger Avatare, denen man alles Mögliche in den Mund legen kann.  Das können zum Beispiel die Antworten auf Frequently Asked Questions sein. Der Avatar ergänzt den Bot um ein visuelles Antlitz. 

Natürlich soll man in der Neon-Software auch eigene Avatare erstellen können. Das ist vielleicht der animierte Bauspar-Fuchs oder ein 3D-Kundenberater. Auch ein Augmented Reality Filter, wie der von Dax Newman ist im Handumdrehen erstellt. Das erzeugt unterm Strich keine werblichen Assets, die man nicht auch mit anderen Techniken umsetzen könnte. Aber es krempelt den kompletten Produktionsprozess so stark um, dass derartige Lösungen nicht nur für Flaggschiff-Kampagnen sondern in der alltäglichen Kundenkommunikation eingesetzt werden.

Und wenn man davon ausgeht, dass Dialogsysteme und Bots immer besser werden, Maschinen also tatsächlich weitgehend frei mit Menschen in den Dialog treten, dann wird klar, wie logisch es ist, dafür ein menschliches oder menschen-ähnliches Ausgabemedium herzustellen. Einen Avatar.

Aber eines nimmt die Maschine dem Marketer nicht ab: Ohne gute Idee keine gute Animation. Da kann die Technik so stark sein, wie sie will.

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Über Frank Puscher

Frank Puscher ist Journalist mit über zwei Jahrzehnten Berufserfahrung.