KI beschleunigt, Haltung entscheidet
Ich denke, dass 2026 zum Wendepunkt für die Digitalwirtschaft wird. Drei Entwicklungen werden den Diskurs bestimmen: Organisationen stehen unter Druck, Haltung wird zur Führungswährung, und Kommunikation braucht Substanz. Der Hype um generative KI hat die Branche beschleunigt und zugleich verunsichert, weil er vieles in Frage stellt, was lange als stabil galt. Nach Jahren des Effizienzbooms entsteht ein neues Bedürfnis nach Verantwortung, Struktur und Sinn. Der technologische Fortschritt geht ununterbrochen weiter, doch die Branche beginnt zu begreifen, dass Technologie allein keine Richtung vorgibt.
Kaum ein Markt zeigt das derzeit deutlicher als Retail Media. Alle wollen mitreden, alle wollen wachsen. Doch hinter neuen Plattformen und Commerce-Versprechen zeigt sich ein altes Muster: Technik ersetzt keine Haltung. Ohne Standards, Transparenz und Verständnis für den tatsächlichen Kundennutzen bleibt Retail Media ein Spiel mit Reichweite und Erwartungen. Haltung in diesem Kontext bedeutet, Verantwortung zu übernehmen – für Messbarkeit, Fairness und Wirkung. Auf Konferenzen wie Retail Reshaped, Adzine Connect Marketing Tech & Media und den Veranstaltungen der Marketing Börse wird deutlich, wie groß der Wunsch nach Orientierung inzwischen ist.
Dasselbe gilt für Programmatic Advertising. Automatisierung, Datenmodelle und KI-Optimierung haben Marketing, Branding und Sales effizienter gemacht, aber auch zunehmend entmenschlicht. Wenn Zielgruppen zu Clustern und Customer Journeys zu Datenströmen werden, geht das verloren, was Markenführung einmal ausmachte: Empathie, Relevanz, Beziehung. Haltung bedeutet hier, Technologie nicht abzulehnen, sondern sie zu rahmen, und zwar mit Werten, Kreativität und mit Kontext. Der Status quo ist nicht in Stein gemeißelt, schon gar nicht in Algorithmen.
Viele Strukturen sind nach Jahren des Wachstums und der Prozessoptimierung ausgereizt. 2025 brachte Entlassungen, Budgetkürzungen und Unsicherheit in einer Branche, die sich lange als Zukunftsgewinner sah. Mit der Verbreitung generativer KI – also Systemen, die Texte, Bilder oder Kampagnen in Sekunden erzeugen – wächst der Druck weiter. Viele klammern sich an Kontrolle, wo Vertrauen gefragt wäre. Doch genau hier entscheidet sich, wer die nächste Phase gestalten kann. Haltung ist keine moralische Kategorie, sondern ein Führungsinstrument. Sie schafft Vertrauen, wo Angst dominiert, und Klarheit, wo Strukturen wanken.
Last but not least wird Kommunikation in all ihren Facetten – von der Markenführung bis zur PR – zur Bewährungsprobe. Zwischen Programmatic Creatives, automatisierten Headlines, performancelastigen Kampagnen und an KPIs orientierten PR-Floskeln droht der Sinn verloren zu gehen. Kommunikation mit Substanz erklärt, statt nur auszuliefern. Sie sucht Relevanz, nicht Reichweite. Und die Zahl der Likes oder Follower, das sei an dieser Stelle gesagt, ist kein Gradmesser für Wirkung. Geschichte und Gegenwart zeigen, dass Massenwirkung und Orientierung nicht dasselbe sind. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde just im Beitrag „Was gute Führung heute ausmacht“ treffend formuliert, dass viele Harmonie mit Haltung verwechseln. Genau das gilt auch für Markenkommunikation: Sie braucht Reibung, nicht Anpassung.
2026 markiert den Übergang von Geschwindigkeit zu Bewusstsein in der Digitalwirtschaft. Technologie bleibt zentral, aber sie ist nicht mehr der Maßstab. Haltung, Organisation und Kommunikation werden zu den Kräften, die darüber entscheiden, ob Fortschritt Orientierung schafft – oder nur Geschwindigkeit. Natürlich sind das nur drei von vielen Trends. Manche werden sich durchsetzen, andere verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Ende 2026 werden wir wissen, was Bestand hat. Bis dahin bleibt Raum für Beobachtung – und für all jene, die schon heute in Glaskugeln schauen und meinen, die Zukunft sei längst entschieden. Womöglich irren sie sich.