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Digitale Teilhabe: Drei Viertel der größten deutschen Online-Shops sind nicht barrierefrei

Aktion Mensch, BITV-Consult, Google und Stiftung Pfennigparade haben die 78 meistbesuchten Shopping-Portale in Deutschland getestet.
Google Germany GmbH | 28.06.2023
Digitale Teilhabe: Drei Viertel der größten deutschen Online-Shops sind nicht barrierefrei © freepik / rawpixel
 

Nur ein Viertel der meistbesuchten Webshops in Deutschland ist in Teilen barrierefrei. Das ist das Ergebnis einer heute veröffentlichten Untersuchung, die die Aktion Mensch und Google mit Unterstützung von BITV-Consult und der Stiftung Pfennigparade unter fachlicher Beratung durch die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik (BFIT-Bund) durchgeführt haben.

Für 7,8 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland bedeutet das, dass sie noch immer auf massive Hürden beim Online-Shopping stoßen: „Menschen mit Beeinträchtigung werden durch fehlende digitale Barrierefreiheit von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen – obwohl sie das Internet überdurchschnittlich intensiv nutzen und eine besonders relevante Gruppe von Online-Kund*innen sind“, sagt Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch. „Wir möchten mit unserer Untersuchung Unternehmen dazu anregen, die noch bestehenden digitalen Barrieren zu beseitigen und so einen wichtigen Beitrag für eine inklusive Gesellschaft zu leisten.“ Denn eine einfache Faustformel lautet:  Barrierefreiheit im Internet ist für zehn Prozent der Bevölkerung (Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung) unerlässlich, für mindestens 30 Prozent (Menschen mit leichten Beeinträchtigungen) notwendig und für 100 Prozent hilfreich.

Mangelnde Tastaturbedienbarkeit ist die häufigste Barriere

Die Untersuchung zeigt: 61 von 78 getesteten Webseiten sind nicht allein über die Tastatur bedienbar. Dabei stellt die Tastaturbedienbarkeit insbesondere für Menschen mit Sehbehinderung eine Grundvoraussetzung für barrierefreie Nutzung dar. Eines der größten Probleme ist etwa, dass die Webseiten nicht über einen sichtbaren Tastaturfokus verfügen. Für beeinträchtigte User*innen ist folglich nur schwer erkennbar, welches Element gerade ausgewählt ist. Zudem stießen Tester*innen mit Sehbehinderung auf vielen der untersuchten Webseiten auf die Herausforderung fehlender Kontrastfarbe: Heben sich Farben der Texte und Hintergründe nicht stark genug voneinander ab, ist es schwierig bis unmöglich für sie, diese Texte zu lesen. Eine weitere Barriere stellen eingeblendete Inhalte wie Banner dar, die Tester*innen mit Sehbehinderung nicht schließen konnten.

Immerhin zwölf Webshops ermöglichen barrierefreie Navigation

Alle 17 tastaturbedienbaren Seiten erfüllen das Kriterium eindeutiger Beschriftungen (Labels) beim Ausfüllen von Formularen. Immerhin 15 hiervon bieten bereits das einfache Ändern der Textgröße („Pinch-to-Zoom“) an, um so eine bessere Lesbarkeit der Webseite zu erreichen. Bei zwölf von 17 Webseiten sind zudem interaktive Bedienelemente („Hamburger-Menüs“) im Bestellprozess korrekt beschriftet, ihr jeweiliger Status (etwa die vorausgewählte Größte bei Kleidung) wird korrekt ausgelesen und die Nutzer*innen können die Auswahl problemlos verändern. Hier war es den Tester*innen ebenso möglich, erfolgreich durch den gesamten Kaufprozess zu navigieren.

Detlef Girke, Tester und Experte für digitale Barrierefreiheit (BITV-Consult), resümiert: „Gelungene Inklusion setzt digitale Barrierefreiheit voraus. Doch leider wird sie von Unternehmen in der Entwicklung von digitalen Angeboten viel zu selten von Beginn an mitgedacht – hier muss ein Umdenken stattfinden. Mein Wunsch für die Zukunft ist es, dass digitale Barrierefreiheit zur Selbstverständlichkeit wird.“

Best-Practice-Beispiele und Handlungsempfehlungen

Neben der Analyse vorhandener Barrieren zeigt der Testbericht anhand von Best-Practice-Beispielen Wege für inklusive Angebote auf. Dazu zählt ein Test der eigenen Webseite mit einem Tool wie Wave. So bekommen Webmaster einen ersten Überblick über vorhandene Barrieren der eigenen Webseite. Des Weiteren empfiehlt der Bericht den Einsatz eines „Screenreaders“ wie Google Talkback auf Android oder Apple VoiceOver auf iOS, um die Webseite komplett nur mit Stimme oder Tastatur (also ohne Maus und Touchscreen) zu durchlaufen. Schließlich sollten bei der Arbeit an Lösungen Menschen mit Beeinträchtigung eingebunden und nach ihren Bedürfnissen gefragt werden.

„Barrierefreiheit ist nicht nur hilfreich für Menschen mit Behinderung, sie ist ein wichtiges Qualitätsmerkmal einer Webseite. Unternehmen können damit neue Kundengruppen erschließen, die eine einfache Bedienbarkeit und verständlich aufbereitete Inhalte – unabhängig von einer Beeinträchtigung - zu schätzen wissen. Und keine Sorge: Barrierefreiheit herzustellen, ist gar nicht so kompliziert. Hauptsache, man legt einfach mal los”, sagt Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte von Google Deutschland. 

Online-Handel muss in zwei Jahren barrierefrei sein

In genau zwei Jahren, am 28. Juni 2025, tritt die EU-Richtlinie zur digitalen Barrierefreiheit (European Accessibility Act – EAA) in Kraft. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, den gesamten Online-Handel für Verbraucher*innen barrierefrei zu gestalten. In Deutschland wird die Richtlinie durch das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umgesetzt. Aus diesem ergibt sich eine Verpflichtung privater Unternehmen, ihre Produkte und Dienstleistungen auf digitale Barrierefreiheit zu prüfen und an die gesetzlichen Vorgaben anzupassen. Dies gilt für Produkthersteller jeglicher Unternehmensgröße. Ausnahmen gelten nur für kleine Dienstleister mit weniger als zehn Beschäftigten und einem Umsatz unter zwei Millionen Euro. Bei Nichterfüllung drohen Geldstrafen von bis zu 100.000 Euro.

Michael Wahl, BFIT-Bund: „Die digitale Barrierefreiheit ist sowohl für die Akteure aus Wirtschaft und Vereinen als auch für die öffentlichen Stellen eine Aufgabe mit großer Zukunftswirkung. Aktuell befinden wir uns in Deutschland an der Schwelle einer notwendigen Professionalisierung. Digitale Barrierefreiheit ist eine Disziplin, die genauso vielfältig wie komplex ist. Daher brauchen wir wesentlich mehr Expertinnen und Experten sowie gut ausgebildete Profis mit und ohne Beeinträchtigung, um die digitale Barrierefreiheit in angemessener Qualität umzusetzen und zu sichern.”

Die Partner des Projekts wollen den Test im kommenden Jahr wiederholen. Der vollständige Bericht steht unter www.aktion-mensch.de/test-barrierefreie-webshops zum Download bereit. Zusätzlich werden Online-Videos mit konkreten Handlungsempfehlungen für Webseiten-Betreibende auf den Social-Media-Kanälen von Google und Aktion Mensch veröffentlicht.

Gerne vermitteln wir Ihnen Interviews mit Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch, Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftragte von Google Deutschland sowie Detlef Girke, Experte für digitale Barrierefreiheit und Tester.

Über die Methodik

Ausgangspunkt der Untersuchung waren die Top-500 Webseiten (Similarweb, 2022) in Deutschland. Genauer betrachtet wurden daraus jene 78 Webseiten, die über einen kompletten E-Commerce-Webshop (von der Suche bis zum Kaufabschluss) verfügen. Anhand einer typischen „User Journey“ wurden die ausgewählten Webseiten auf acht zentrale Kriterien für digitale Barrierefreiheit (Basis WCAG) zunächst automatisiert und dann manuell in zwei Schritten überprüft: 

  1. Tastaturbedienbarkeit als Grundvoraussetzung für digitale Barrierefreiheit
  2. Webseiten, die die Tastaturbedienbarkeit erfüllten, wurden auf bis zu sieben weitere Kriterien getestet (u.a. Veränderbarkeit der Textgröße, Untertitel bei multimedialen Inhalten sowie Überschriften und Beschriftungen) 

Die sieben Testexpert*innen von BITV-Consult und der Stiftung Pfennigparade sind Menschen mit unterschiedlichen körperlichen, kognitiven oder Sinnesbehinderungen.

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