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Barrierefreiheit durch digitale Klone

KI-Klone ermöglichen barrierefreie Kommunikation per Sprache oder Text – trainiert auf eigene Inhalte. Ein Gamechanger für Service Inklusion.
Gabriele Horcher | 01.08.2025
KI-Agenten und -Klone im Einsatz für digitale Barrierefreiheit © Freepik
 

Viele Unternehmen, Verbände und Vereine nutzen Bank-, E-Commerce- oder Telekommunikationsdienste, um mit Verbrauchern über das Internet zu kommunizieren oder Geschäfte abzuschließen. Das neue Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verpflichtet sie daher zur digitalen Barrierefreiheit. Rund 190.000 Organisationen in Deutschland mussten ihre Apps, Onlineshops und Webseiten bis zum Stichtag – 28. Juni 2025 – barrierefrei gestalten. Für die Umsetzung bestehender Kommunikation können KI-Technologien wie Screenreader, Text-to-Speech, Speech-to-Text sowie Systeme zur KI-gestützten Text- und Bildgenerierung eingesetzt werden. Um barrierefreie Kommunikation darüber hinaus zukunftsfähig zu machen, können aber auch neue spannende Technologien wie KI-Agenten und KI-Klone zum Einsatz kommen.

Die Mindestanforderungen an barrierefreie Websites

Wahrnehmbarkeit: Inhalte müssen so gestaltet sein, dass alle Verbraucher sie wahrnehmen können, unabhängig davon, ob sie visuelle, auditive oder andere Einschränkungen haben. Dazu muss jedes enthaltene Format wie Text, Bild, PDF, Audio oder Video über mehr als nur einen Sinneskanal zugänglich gemacht werden. Ist dies gegeben, spricht man von digitaler Barrierefreiheit. Dies beinhaltet zum Beispiel Alternativtexte für Bilder, die aussagen, was auf einem Bild zu sehen ist, und die Bereitstellung von Untertiteln für Audio und Video.

Bedienbarkeit: Die Website muss für alle Nutzer bedienbar sein, unabhängig von ihren körperlichen Fähigkeiten. Dies bedeutet, dass alle Funktionen, einschließlich der Navigation, mit der Tastatur steuerbar sein müssen und ausreichend Zeit für Interaktionen bereitgestellt wird.

Robustheit: Inhalte müssen so robust sein, dass sie mit einer Vielzahl assistiver Technologien – etwa mit Screenreadern – kompatibel sind und korrekt dargestellt werden.

Für betroffene Organisationen gilt: Sie können die vom Gesetz vorgeschriebenen Mindestanforderungen an digitale Barrierefreiheit umsetzen. Oder Sie nutzen die Barrierefreiheitsanforderungen, um ihre Kommunikation neu zu überdenken und zukunftsfähig zu machen. Die multimodalen, großen Sprachmodelle wie ChatGPT, Claude, Gemini oder Grok, mit denen man inzwischen nicht nur über Text-, sondern auch über Bild- und Spracheingabe kommunizieren kann, bieten ganz neue Möglichkeiten zur Automatisierung und zum Einsatz neuer spannender Kommunikationskanäle und -Strategien.

Wie viele Menschen profitieren von digitaler Barrierefreiheit?

Jeder Mensch profitiert von mehr digitaler Barrierefreiheit. Denn motorisch behindert sind wir schon, wenn wir ein Kind auf dem Arm halten. Eine gewisse Sehbehinderung bemerkt jeder, wenn wir bei Sonneneinstrahlung nicht mehr alles auf dem Bildschirm erkennen können. Eine Hörbehinderung kann durch den Umgebungslärm in einem Großraumbüro entstehen. Kognitiv beeinträchtigt sind wir, wenn wir versuchen, Multitasking zu betreiben. Situative Behinderungen sind vielfältig und passieren jedem.

Es gibt auch temporäre Beeinträchtigungen, zum Beispiel einen eingegipsten Arm. Vielleicht ist ein Auge verletzt, oder wir haben gerade unsere Brille verlegt. Auch eine Mittelohrentzündung, ein Hörsturz, Migräne oder Müdigkeit können uns bei der Nutzung von Onlineshops und Websites behindern. Die Zahl der Menschen, die mit situativen und temporären Behinderungen zu kämpfen haben, ist statistisch schwer zu erfassen. Die Zahl derer, die dauerhaft betroffen sind, ist zudem höher, als man denkt:

  • In Deutschland leben rund 7,9 Millionen Menschen mit einer schweren, dauerhaften Behinderung. Das sind rund 9,3 Prozent der Bevölkerung.
  • Und in einer immer älter werdenden Bevölkerung nimmt der Anteil der Menschen mit Behinderungen zu. 18,6 Millionen Menschen – rund 22 Prozent – sind älter als 65 Jahre.
  • Zudem sprechen 12,3 Millionen – rund 15 Prozent – der in Deutschland lebenden Menschen die deutsche Sprache nicht als Muttersprache.
  • Hinzu kommen 6,2 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Das entspricht 7,5 Prozent der Bevölkerung.

Insgesamt sind 45 Millionen Menschen dauerhaft betroffen. Sicherlich gibt es Überschneidungen der Betroffenengruppen und damit eine gewisse Mehrfachzählung in dieser Summe. Dennoch kann man bei einer aktuellen Einwohneranzahl von 82,7 Millionen unter dem Strich wohl sagen, dass jeder Zweite in Deutschland digitale Barrierefreiheit braucht. Nimmt man die möglichen situativen und temporären Beeinträchtigungen hinzu, kommt man zu dem Schluss, dass jeder von digitaler Barrierefreiheit profitiert.

Was sind KI-Agenten?

In den letzten Jahren haben viele Unternehmen verschiedene generative KI-Modelle beobachtet, getestet und auch eingesetzt: zum Beispiel KI-Textgenerierung, KI-Bilderzeugung, KI-Videoerstellung. Je nachdem, was eine künstliche Intelligenz generieren soll, wird ein bestimmter Algorithmus, maschinelles Lernen oder ein neuronales Netz eingesetzt. So kann eine KI die spezifische Aufgabe schneller erledigen als jeder Mensch. Aber eben nur diese eine spezifische Aufgabe. Eine andere Aufgabe erfordert einen anderen spezifischen Algorithmus, maschinelles Lernen oder ein neuronales Netz. KI-Agenten kombinieren nun verschiedene KI-Technologien. So können KI-Agenten eine ganze Reihe unterschiedlicher Aufgaben in der richtigen Abfolge erledigen.

KI-Agenten im Einsatz für die Automatisierung

Wenn auf einer Website oder einem Onlineshop beispielsweise nicht von Anfang an die Alternativtexte für Bilder (Alt-Tags) gepflegt wurden, kann das nachträgliche Einfügen für die Herstellung von digitaler Barrierefreiheit sehr aufwendig werden. Das KI-Agentensystem ChatGPT Operator von OpenAI ist in der Lage, selbstständig einen Browser zu steuern und Aufgaben wie Content-Optimierung, SEO-Anpassungen oder sogar die Pflege von Webseiten zu übernehmen. So kann der KI-Agent sich an der eigenen Website anmelden, eine Bilddatei öffnen, einen Alternativtext erstellen, den Alt-Tag einfügen, die Datei speichern und dann die nächste Bilddatei öffnen. Der Prozess wird durch einen Prompt angestoßen und läuft im Hintergrund, sodass man ggf. jederzeit eingreifen kann. ChatGPT Operator wird voraussichtlich Mitte 2025 auch in Deutschland verfügbar sein. Andere Anbieter arbeiten ebenfalls an solchen Automatisierungslösungen.

Wie profitieren Organisationen von digitaler Barrierefreiheit?

  • Dauerhaft vergrößertes Marktvolumen: Digitale Barrierefreiheit führt insgesamt zu einem dauerhaft vergrößerten Marktvolumen, weil mehr Menschen am Markt teilnehmen.
  • Verbesserte Customer Experience: Unternehmen stärken ihre Wettbewerbsfähigkeit durch eine verbesserte Kundenerfahrung und Kommunikation über alle Formate hinweg.
  • Attraktiver Arbeitgeber: Die affirmative Haltung einer Organisation zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit macht sie als Arbeitgeber für Fach- und Führungskräfte deutlich attraktiver.
  • Umsetzung mit KI: Für die Umsetzung der bestehenden Kommunikation können viele Prozesse automatisiert – oder zumindest teilautomatisiert – mithilfe von künstlicher Intelligenz umgesetzt werden.

Was sind KI-Klone?

Ein digitaler Klon ist ein neuer, innovativer Kommunikationskanal. Er eröffnet heute schon die Möglichkeit, einer virtuellen Interaktion von Internet-Nutzern mit den Inhalten von Websites oder Onlineshops. Ein KI-Klon ist quasi die digitale Version einer realen oder imaginären Person. Der Klon wird individuell trainiert. Für das Training werden die eigenen, digitalen Inhalte genutzt – in Form von Text, Bild, Audio oder Video. Zum Training ist der Upload von Word- oder PDF-Dateien, MP3-/MP4-Dateien oder sogar ganzer Webseiten möglich. Das Training passiert mithilfe der großen Sprachmodelle ChatGPT, Claude und/oder Gemini.

Nutzer und Nutzerinnen können dem digitalen Klon ihre individuellen Fragen stellen – schriftlich oder mündlich, in ihrer Landessprache, ohne spezielle Sprachbefehle zu kennen. Sie erhalten die Antwort als Sprache und/oder Text. Eine der wesentlichen Anforderung des BFSG, alle Inhalte über zwei Sinneskanäle zugänglich zu machen, ist damit erfüllt. Doch es ergeben sich noch weitere Vorteile für Menschen mit und ohne Behinderungen.

KI-Klone im Einsatz für die barrierefreie Kommunikation

Menschen sind oft nicht so sehr an strukturiert dargelegten Inhalten interessiert – sie wollen einfach nur schnelle Antworten auf ihre spezifischen Fragen. Was für Menschen ohne permanente Behinderungen gilt, gilt auch für Menschen mit Beeinträchtigungen, für die ein Besuch einer Website oder ein Kauf im Internet immer deutlich länger dauert und leider sehr häufig im Frust endet.

  • Vorteile für Menschen mit Seh- oder motorischen Beeinträchtigungen
    Wenn ein Klon mit den Inhalten einer Website oder eines E-Books trainiert wird, können Nutzer und Nutzerinnen mit Seh- oder auch motorischen Beeinträchtigungen mit der Website interagieren, ohne sich für die gewünschten Informationen durch die gesamte Website navigieren zu müssen oder sich alle Inhalte vorlesen zu lassen. Sie können einfach eine Frage mündlich stellen. Oder sie bekommen Vorschläge für typische Fragen, die sie stellen können, angezeigt oder vorgelesen. Das verringert den Zeitbedarf für die (potenziellen) Kunden enorm und bietet eine individuelle Customer Journey.
  • Vorteile für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen
    Für Hörbeeinträchtigte, kann der digitale Klon mit den Video- und Audio-Inhalten einer Website oder mit Podcasts und Hörbüchern trainiert werden. Dann brauchen Nutzer und Nutzerinnen beispielsweise nicht ein komplettes Video mit Untertiteln anzusehen oder das Transkript einer Audiodatei zu lesen, um zu ihren gewünschten Informationen zu gelangen. Und die Ausgabe der Antwort kann entweder schriftlich oder sogar durch einen gebärdenden Avatar passieren.
  • Vorteile für Menschen mit kognitiven Einschränkungen
    Wenn ein solches KI-Klon-System mit den Inhalten einer Website, eines E-Books, von Video- oder Audiodateien trainiert wird, können Nutzer und Nutzerinnen mit kognitiven Einschränkungen ihre individuellen Fragen schriftlich oder mündlich stellen und erhalten die Antwort – auf Wunsch – in einfacher Sprache.

Buchtipp

Das Buch „Barrierefrei und nutzerzentriert kommunizieren – Wie Sie die Anforderungen des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes effizient umsetzen“ erschien Ende Mai 2025 in einer stark erweiterten Neuauflage im Springer Gabler Verlag (https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-48520-7) und im Buchhandel. Was Sie in diesem Buch finden:

  • Checklisten, über die Sie schnell und einfach herausfinden, ob und wie Sie selbst oder Ihre Kunden vom neuen Barrierefreiheitsstärkungsgesetz betroffen sind.
  • Roadmaps für Produkthersteller sowie deren Importeure, Distributoren und Reseller; Anbieter von Dienstleistungen und deren Vertragspartner; sogenannte Leistungserbringer/Leistungsanbieter.
  • Normen und Richtlinien für die Herstellung von digitaler Barrierefreiheit.
  • Hintergrundinformationen, wie Sie Behinderungen besser verstehen.
  • Strategien und Szenarien, wie Sie das BFSG sinnvoll umsetzen und für sich nutzen.
  • Beschreibungen von Herausforderungen in unterschiedlichen Branchen, die mehrfach von den Barrierefreiheitsanforderungen betroffen sind.
  • Spezifische Schritte für das Business Development von Beratern, Content-Dienstleistern, Website- und Digital-Agenturen, Developern und IT-Dienstleistern sowie Service-Providern.
  • Übersicht zu (KI-)Technologien, die Ihnen helfen, digitale Barrierefreiheit für seh-, hör-, motorisch und kognitiv beeinträchtigte Menschen herzustellen.
  • Einblick in Kommunikationstechnologien und -strategien, die Ihnen eine spannende, zukunftssichere und barrierefreie Kommunikation ermöglichen.

Fazit

Die Anforderungen an digitale Barrierefreiheit sind mithilfe von KI umsetzbar. Und durch den zusätzlichen Einsatz von KI-Agenten lassen sich zukünftig auch die entsprechenden Prozesse automatisieren. Diese Automatisierung durch KI-Agenten wird enorm viel Ressourcen und Zeit sparen.

Der Einsatz von KI-Klonen hat darüber hinaus das Potenzial, die Nutzung von anderen Kommunikationskanälen zu verändern. Denn anders als bei einem simplen Chatbot sind die Antworten beim digitalen Klon nicht vorprogrammiert – er antwortet den Menschen ad hoc, schriftlich und/oder über Sprache. Unternehmen, die die Anziehungskraft und die Faszination nutzen, die von einem digitalen Klon ausgehen, werden als besonders innovativ und kundenfreundlich wahrgenommen. Alle Besucher können einfach mit dem digitalen Klon interagieren, statt sich mühsam durch eine gesamte Website navigieren zu müssen, um die gewünschten Inhalte und Antworten zu finden.

Entscheidend ist nicht, ob eine Organisation rechtlich gesehen unter das BFSG fällt, sondern ob die relevante Zielgruppe der Menschen mit einer dauerhaften, temporären oder auch nur situationsbedingten Beeinträchtigung weiterhin ausgeschlossen werden soll.