Marketing-Börse PLUS - Fachbeiträge zu Marketing und Digitalisierung
print logo

Das Ende von Programmatic Advertising

Brian O’Kelley, Erfinder von RTB, kritisiert Programmatic als ineffizient & CO₂-intensiv. Mit Scope3 will er digitale Werbung nachhaltiger machen.
Frank Puscher | 20.08.2025
Brian O’Kelley, Gründer von Scope3 und einstiger Pionier des Programmatic Advertising © Frank Puscher
 

Der CO2-Fußabdruck der digitalen Werbung

Brian O’Kelley, Mitgründer von Scope3 und einstiger Pionier des Programmatic Advertising, zieht eine kritische Bilanz über die Entwicklungen der letzten Jahre. Der frühere Erfinder von Real Time Bidding, dem Vorläufer zu Programmatic Advertising geht mit seinem „Baby“ hart ins Gericht. Vor allem im Display-Advertising sei es ineffizient, intransparent und verbrauche unnötig kostbare Ressourcen. In seiner neuen Rolle, beim Nachhaltigkeits-Startup Scope3, zeigt sich die digitale Werbung in neuem Licht: als ökologisches Problem.

Es war ein Paukenschlag im Jahr 2022, als Brian O´Kelley die Gründung von Scope3 bekanntgab. Zusammen mit Anne Coghlan startete O´Kelley ein Unternehmen, das antrat, den CO2-Fußabdruck der digitalen Werbung zunächst zu messen und dann zu reduzieren. Das Besondere: Beide Gründer sind alles andere als Öko-Idealisten mit Tech-Phobie. Coghlan begann ihre Karriere als Tech-Consultant bei Accenture, arbeitete dann unter anderem für AppNexus, Xandr und Waybridge, also für Unternehmen, die eher der Hardcore-Technik in der Digitalwerbung zugeordnet werden können. Und O´Kelley? Er war 2007 der Gründer von AppNexus und somit einer der Miterfinder von Real Time Bidding. Jener digitalen Auktionsform, die heute unter dem Namen Programmatic Advertising deutlich über die Hälfte aller Digitalbudgets verwaltet.

Wenn sich zwei ausgewiesene Tech-Experten zu so einem Seitenwechsel entschließen, horcht die Branche auf. Die Ideen und Verbesserungsvorschläge von Coghlan und O´Kelley haben Hand und Fuß, weil beide die digitale Webebranche von Innen kennen. Vor allem O´Kelleys Wort hat Gewicht.

Rund vier Prozent aller CO2-Emissionen gehen zu Lasten der Digitalwerbung. Das ist mehr, als die gesamte Luftfahrt erzeugt. Es hat viel damit zu tun, dass nicht nur auf der Seite des Absenders Technik und somit Elektrizität benutzt wird, sondern auch auf den Übertragungswegen zum Endkunden und – bei CTV, Display oder Mobile – eben auch durch die Endgeräte, mit denen die Menschen die Werbung rezipieren. Und die Tendenz geht durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz eher nach oben als nach unten. Das will Scope3 ändern.

Dreieinhalb Jahre nach der Gründung ist es um das Unternehmen nach außen hin ruhig geworden. Natürlich hat sich auch die gesellschaftliche Debatte um den Klimawandel im letzten Jahr merklich reduziert. Doch der Eindruck täuscht. Im Hintergrund hat das Team rund um CEO Brian O’Kelley eine Vielzahl an Tests und Fallstudien durchgeführt. Der Fokus: Werbung effizienter und umweltfreundlicher gestalten.

„Wir sind definitiv noch weit davon entfernt, unsere Ziele zu erreichen.“ Mit diesem Satz macht O’Kelley klar, dass Scope3 ein langfristiges Projekt ist – und dass die Herausforderungen gewaltig sind.

Die Angst vor Bevormundung

Vor allem in den USA, so O’Kelley, seien die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zuletzt schwieriger geworden. Nachhaltigkeit sei für viele zum Reizthema geworden. „Es scheint eine echte Angst zu geben, die Donald Trump erkannt hat – die Angst, bevormundet zu werden oder etwas zu verlieren.“

Scope3 reagiert auf diese Stimmung mit Zurückhaltung in der Außenkommunikation. Statt laut zu trommeln, arbeitet das Unternehmen lieber im Stillen – und setzt auf langfristige Partnerschaften. Wer einmal begonnen habe, mit Scope3 zu arbeiten, bleibe in der Regel auch dabei, sagt O´Kelley. Andere, die nur auf PR-Effekte aus waren, seien längst abgesprungen.

Verschwendung und fehlende Transparenz

O’Kelley spart nicht mit Kritik am derzeitigen Zustand der digitalen Werbung. Besonders deutlich wird er beim Thema Viewability – also der Frage, ob Anzeigen überhaupt gesehen werden: „30 Prozent der Werbeausgaben erreichen schlicht niemanden.“ Dabei handle es sich nicht nur um technische Fehler, sondern oft um systematische Täuschung: Anzeigen würden gezielt so platziert, dass sie zwar gebucht und bezahlt, aber niemals sichtbar würden.

Dass viele Werbetreibende trotzdem nicht schärfer gegen diese Verschwendung vorgehen, hat laut O’Kelley mehrere Gründe. Ein zentraler sei die Entfremdung zwischen der Marke und ihren Agenturen. „Viele Agenturen haben den gesamten Entscheidungsprozess vom Werbetreibenden übernommen. Sie berichten gute und positive Zahlen und lassen die negativen lieber weg.“

Programmatic Advertising – ein Auslaufmodell?

O’Kelley, der einst Real-Time-Bidding erfand, geht mit seinem eigenen Erbe hart ins Gericht. Auf die Frage, ob Programmatic Advertising tot sei, antwortet er knapp und klar: „Ja.“

Dabei differenziert er zwischen dem logistischen und dem auktionsbasierten Teil des Systems. Während zentrale Dashboards zur Steuerung von Kampagnen sinnvoll seien, funktioniere das Auktionsmodell in einer fragmentierten Medienwelt mit Apps, CTV und Social Media nicht mehr: „Auktionen sind super, wenn alles das gleiche Format hat. Auktionen sind schrecklich, wenn alles unterschiedlich ist.“

Angesichts der fortschreitenden Fragmentierung der Märkte fehle es an übergreifenden Standards. Viele auch kleinere Publisher bauen Walled Gardens, bei denen man nicht mehr hinter die Fassade schaut. Und die Großen, also Meta, Google und Co., setzen verstärkt auf eine KI-gestützte Vollautomatisierung. Der Werbetreibende gibt sein Geld in eine Blackbox und verliert komplett die Steuerungsmöglichkeit.

Diese harschen Worte konnte der BVDW, der Bundesverband Digitale Wirtschaft, nicht auf sich sitzen lassen. In einem öffentlichen Statement konterte Eric Hall, der Vorsitzende der Fokus-Gruppe Programmatic Advertising beim BVDW: „Ich stimme Brian O’Kelley in einem Punkt zu: Das heutige System ist (zu) komplex und braucht an vielen Stellen eine Revision. Doch gerade darin liegt seine Stärke. Wandel ist die Konstante im Programmatic – und genau deshalb lebt es“, schrieb er im Branchenmagazin MEEDIA.

Die Rolle der künstlichen Intelligenz

Trotz aller Kritik sieht O’Kelley auch Chancen – vor allem durch Künstliche Intelligenz. Scope3 setzt KI ein, um Kampagnen effizienter zu gestalten und CO₂-Emissionen zu reduzieren. Dabei sei Transparenz oberstes Gebot: „Die KI muss sich erklären. Sie muss dem Werbetreibenden zeigen, was sie tut und warum sie es getan hat.“

Ein Beispiel ist das Simulationsmodell von Scope3: Werbetreibende geben ihre Ziele vor, das System errechnet Empfehlungen – und kann angepasst werden, bevor überhaupt Anzeigen ausgespielt werden. So sollen Fehler vermieden und Vertrauen aufgebaut werden. Für O’Kelley ist das ein klarer Bruch mit den intransparenten Systemen von Google und Meta.

CO₂-Bilanz als neue Werbewährung

Im Zentrum der Arbeit von Scope3 steht nicht nur Effizienz, sondern vor allem  Nachhaltigkeit. Digitale Werbung, besonders Programmatic, gilt als CO₂-intensiv – durch Datenübertragung, Auktionen und Reseller. „Aus Sicht der CO₂-Emissionen ist Programmatic Advertising unglaublich ineffizient.“

Der Ansatz von Scope3: Statt pauschal Kanäle zu verurteilen, wird die Effizienz im Verhältnis zur Wirkung betrachtet. TV oder Radio können demnach ökologisch sinnvoller sein als ineffiziente Display-Kampagnen, vor allem auch dann, wenn es um spezielle und besonders kreative Werbeformen geht.

„Wir müssen Kanäle nicht nach ihren absoluten CO₂-Emissionen bewerten, sondern nach ihren CO₂-Emissionen im Verhältnis zur Werbewirkung.“

Der radikale Wandel braucht neue Denkweisen

Scope3 könnte die nötige Software selbst bauen, aber man will keine neue Demand-Side-Plattform (DSP) werden. Vielmehr versteht sich das Unternehmen als Vermittler zwischen Werbetreibenden und Publishern – mit einem Fokus auf Transparenz und Qualität. „Ich will überhaupt keine weitere Auktionssoftware für Werbekunden bauen.“

Dabei gehe es auch darum, dem Markt zu helfen, wieder zueinanderzufinden. Viele Publisher wüssten gar nicht mehr, welche Interessen auf der Nachfrageseite bestünden – ein Kommunikationsproblem, das Scope3 mithilfe von KI lösen will.

Kein Greenwashing, sondern Wirkung

O’Kelley betont, dass Scope3 nicht auf plakative Öko-Signale setzt, sondern auf Wirkung: „Für mich ist es wichtiger, als T-Shirts zu drucken, dass Agenturen das den Kunden in ihren Reports deutlich machen.“ Die öffentliche Darstellung sei zweitrangig – wichtig sei, dass das System funktioniere und die Ergebnisse besser würden: bessere Conversions, bessere Brand-Safety, geringere Emissionen.

Die Plattform von Scope3 sei dabei bewusst offen gestaltet. Wer sich über die CO₂-Bilanz einzelner Publisher informieren wolle, könne dies jederzeit tun: „Wenn Sie auf unsere Plattform gehen, können Sie das alles nachlesen. Die Daten sind öffentlich.“

Die Zukunft der Kreation

Ein weiterer zentraler Punkt ist für O’Kelley die Bedeutung guter Kreation – ein Aspekt, der im bisherigen Programmatic-Ansatz oft vernachlässigt wurde. Werbung müsse wieder emotionaler werden, Geschichten erzählen, die Menschen wirklich erreichen. Dabei könne KI helfen, Inhalte zu personalisieren – aber nicht die Kreativität ersetzen.

„Die größte Idee in unserem System ist, Unternehmen zu zeigen, dass ein Storytelling-Video auf YouTube zum Beispiel effektiver sein kann als 100 Anzeigen.“

Fazit

Brian O’Kelley steht an einem Wendepunkt. Der einstige Architekt des Programmatic Advertising erkennt die Fehlentwicklungen eines Systems, das er selbst mit aufgebaut hat – und will es nun revolutionieren. Mit Scope3 verfolgt er einen radikal anderen Ansatz: weniger Standardisierung, mehr Relevanz, mehr Nachhaltigkeit.

Der Erfolg gibt ihm Recht: Die Nachfrage nach Scope3 wächst – trotz schwieriger Marktlage – weiterhin rasant. O’Kelleys Ziel ist es, die digitale Werbung auf eine neue, gesündere Basis zu stellen. Nicht durch laute PR – sondern durch funktionierende Lösungen. „Wenn es gelingt, auszusortieren, steigen alle Kampagnenwerte. Und gleichzeitig sinken die CO₂-Emissionen.“ Das liegt mit Sicherheit auch im Interesse von Eric Hall und dem BVDW.

Img of Frank Puscher

Frank Puscher ist Journalist mit über zwei Jahrzehnten Berufserfahrung.

Newsletter