Wenn Messbarkeit Moral ersetzt
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Die Werbebranche muss man einfach liebhaben. Ich bin seit mehr als fünfzig Jahren ein Teil von ihr und habe sie mit 20 Jahren ebenso geliebt wie heute. Sie war divers, als man das Wort noch nicht kannte. Sie war immer voller bunter und bisweilen schräger Leute, die ihr einen ganz besonderen Nimbus verliehen. Sie war seit jeher so kreativ, dass ich früh auf die glorreiche Idee kam, kreative Mediaplanung zu erfinden.
Sie war aber auch immer ein wenig naiv. Was uns zur Frage führt: Sind kreative Menschen naiver als andere? Ich glaube schon. Woran erkennt man ein solches Phänomen? Aktuell daran, dass es seit geraumer Zeit immer mehr Appelle gibt. Appelle an die Verantwortung. Phänomene wie Responsible Advertising. Aufrufe zu mehr Nachhaltigkeit. Diese Appelle sind sehr ernst gemeint. Das Tragische an ihnen ist, dass wir so naiv sind zu glauben, dass sich jemand dafür interessiert.
Julia Jäkel, einst Chefin von Gruner + Jahr, heute Mitbegründerin der „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“, war die Erste, die unsanfte Erfahrungen mit Appellen machte. Sie rief 2017 Unternehmen dazu auf, ihre Werbeinvestitionen zu überprüfen: "Ohne es zu wollen, finanzieren Mitglieder der deutschen Wirtschaft das Wachstum einer neuen dubiosen Medienlandschaft - und tragen so zur Verbreitung von Fake News und Hate Speech bei. Dabei macht das kein Marketingentscheider mit Absicht - kein Einzelner kann jeden Artikel auf jeder Seite im Netz auf dem Radar haben. Aber genau das ist die Gefahr. Und umgekehrt die Chance: Wirtschaftsentscheider haben Einfluss. Sie bestimmen mit ihrem Geld, in welcher Gesellschaft sie ihre Produkte anbieten."
Die Reaktionen aus Wirtschaft und Agenturen waren beschämend. Man werbe dort, wo sich die Zielgruppen aufhalten, man trage keine Verantwortung für das Umfeld der Werbung. 2021, nur wenige Jahre später, waren es der Ad Fraud-Experte Michael M. Maurantonio und ich, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz mehr als 2.500 namhafte Unternehmen identifizierten, die auf ausgewiesenen Hate und Fake News-Seiten warben. Von den angeschriebenen Unternehmen ignorierten 84 Prozent die Hinweise der Initiatoren und setzten ihre Kampagnen fort, mit denen sie Rechtradikale und Kriminelle finanzierten. Die Ignoranz der Werbetreibenden und ihre mangelnde Bereitschaft, Verantwortung für die Platzierung ihrer Werbegelder zu übernehmen, erschüttert mich bis heute.
Plattformen schaffen die freie Marktwirtschaft ab
Als der Medienwissenschaftler Martin Andree 2023 dann sein erstes Buch „Big Tech Muss Weg!“ veröffentlichte, beschrieb er darin, wie digitale Monopole immer größere Teile unserer Lebenswelt unter ihre Kontrolle bringen. Sie dominieren zunehmend die politische Meinungsbildung und schaffen nach seiner Auffassung unsere freie Marktwirtschaft ab. Wenn Werbungtreibende, die diese Online-Plattformen ganz alleine mit ihrer Werbung finanzierten, nicht sofort eingriffen, würden den journalistischen Medien nur noch wenige Jahre verbleiben, bis ihre Existenz in Frage gestellt ist. Die Reaktion auf sein Buch seitens der werbenden Unternehmen war eisiges Schweigen.
In seinem zweiten Buch „Krieg der Medien“ schreibt Andree 2025 bereits vom „bitteren, rabenschwarzen Ende“. Der Point Of No Return, ab dem ein Eingreifen zu spät ist, ist erreicht. Unsere Medien werden diesen Angriff nicht überleben. Werbungtreibenden bleiben künftig für ihre Werbebotschaften nur noch die Plattformen von Google, Meta, Amazon, X und TikTok. Während Andree seine Thesen herausbrachte, stieg der Anteil allein der Tech-Giganten Google, Meta und Amazon an den gesamten deutschen Netto-Werbeinvestitionen auf unfassbare 50 Prozent. Die Reaktion der Werbewirtschaft war keinesfalls innezuhalten, sondern im Gegenteil: sogar plattform-digital noch Gas zu geben. Sie schicken unsere Medien und Medienvielfalt in den sicheren Tod.
Werbebranche darf die Demokratie nicht in Frage stellen
Zu Beginn dieses Jahres veröffentliche der Gesamtverband Kommunikationsagenturen (GWA) eine „Hamburger Erklärung“, in der der Verband Agenturen und Unternehmen dazu aufruft, mehr Verantwortung für Demokratie und Gesellschaft zu übernehmen. Dabei geht es unter anderem um die Finanzierung journalistischer Angebote. Eine freie Wirtschaft, schrieb dazu W&V, setze eine funktionierende Demokratie voraus, in der sämtliche Akteure informierte Entscheidungen treffen könnten. "Werbung finanziert den in diesem Sinne hoch systemrelevanten unabhängigen Journalismus und ist für die Demokratie unverzichtbar." Ohne Kunden würde das allerdings schwierig. Sie reagierten in der Regel verhalten, wenn es darum geht, journalistischen Content mit ihren Budgets zu stützen.
Die Erkenntnis aus diesen Ereignissen ist eindeutig. Werbekunden sind gefragt, Verantwortung zu übernehmen und drohendes Unheil von uns und ihnen selbst abzuwenden. Doch sie wenden sich desinteressiert ab. Sie sind offensichtlich nicht bereit einzugreifen und die erbetene Verantwortung zu übernehmen.
Marketing, was stimmt nicht mit euch?
Was stimmt mit ihnen nicht? Marketingverantwortliche sind Menschen aus Fleisch und Blut. Es sind Menschen mit Empathie – das wird jeder von uns bestätigen. Sie haben, wie wir alle, Kinder, die sie in eine fragwürdige Zukunft entlassen. Und sie gehören zu den intelligentesten Menschen, die ich kenne. Wenn man ihnen sagt, dass sie mit ihren Media-Entscheidungen die Medienvielfalt gefährden und ihnen dadurch bald die dringend benötigte Medienauswahl für die eigenen Botschaften fehlen wird, können sie das erfassen und verarbeiten. Und doch handeln sie nicht. Sie greifen nicht ein und laufen blind in die weit geöffneten Messer der Digital-Monopolisten.
Zugegeben, das Fach „Verantwortung“ stand nie auf den Lehrplänen des BWL-, KW- und Marketing-Studiums. Dass Marketing mit seinen Mediaentscheidungen gesellschaftliche Veränderungen und gar Verwerfungen hervorzurufen vermag, ist neu und muss gewiss verarbeitet werden. Aber – je länger man darüber nachdenkt – sind in Wirklichkeit nicht ganz andere Faktoren an allem schuld?
Schuld sind nur die KPIs
Marketing und Werbung haben die Aufgabe, Käufe zu beeinflussen, Umsätze zu verteidigen und zu steigern, Marktanteile zu erobern. Um diese Performance auszulösen und zu kontrollieren, haben Werber sogenannte Key Performance Indikatoren geschaffen – z.B. den Tausendkontaktpreis (TKP), Ad Impressions, Cost per Click (CPC), Leads und Cost per Lead (CPL), Unique Visitors, Click Through Rate (CTR), Conversion Rate und Dutzende anderer. Man könnte von einer Verblendung des Marketings durch KPIs sprechen.
Bezeichnend an diesen KPIs ist, dass sie überwiegend Mess-Indikatoren für digitale Werbung sind und sie sich zudem deutlich besser in digitalen als in allen anderen Medien darstellen lassen. Somit verführen KPIs die Verantwortlichen dazu, den Anteil ihrer Werbung auf digitalen Plattformen immer weiter zu erhöhen.
Das ist die einzig logische Erklärung. Denn die meisten der von Abkehr betroffenen, analogen Medien erfreuen sich bester Nutzung und Gesundheit und haben überhaupt nicht vor, das Zeitliche zu segnen. Außerdem führte die Zunahme digitaler Werbung bislang lediglich zu einem signifikanten Einbruch der Werbewirkung, womit diese unerwünschte Nebenwirkung der Plattform-Werbung wohl kaum als Motivation herangezogen werden kann.
Um den zahlreichen und überlebenswichtigen Appellen und Aufrufen zur beabsichtigten Wirkung zu verhelfen, haben wir also zwei Möglichkeiten. Wir schaffen alle KPIs ab, die ohnehin keinen Einfluss auf die Ergebnisse der Marketingbemühungen haben. Zu beweisen, dass die meisten von ihnen wirkungslos sind, ist kinderleicht. Die Marketing- und Agenturentscheider davon zu überzeugen, dauert jedoch mindestens zehn Jahre. Bis dahin sind unsere Medien längst gestorben, das Kind also im Brunnen.
Daher bleibt uns keine Wahl, als die Entscheider weiter wachzurütteln, sie mit Beiträgen wie diesen davon zu überzeugen, dass sie am Ende selbst die Leidtragenden sind, wenn sie sich von Google, Meta und Amazon abhängig machen. Dass ihre Werbewirkung weiter sinken wird, wenn sie nicht umdenken. Dass ihnen ihr aktueller Mindset selbst ein Bein stellt. Dass aber alles gut wird.