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Viralität entsteht durch System, nicht Zufall

Nachhaltige Reichweite entsteht nicht durch Trends, sondern durch Kreativität: unhinged, community-driven und mutig außerhalb des Brand-Comfort-Rooms.
Jason Modemann | 02.12.2025
Viral by Accident? Lieber Reichweite mit System © Freepik / user8263287
 

Wir alle kennen diese Momente: Ein zufälliger Clip, eine absurde Situation, und plötzlich sind die Feeds voll davon und das ganze Internet redet darüber. Viral by accident – klingt erstrebenswert, beruht aber oft auf Zufall, nicht auf einer durchdachten Strategie. Und meistens ist der virale Hit dann auch schnell wieder vergessen. Denn die Aufmerksamkeitsspanne ist extrem kurz und User*innen swipen einfach weiter.

Wer auf Social Media heute erfolgreich sein will, muss Content schaffen, der nicht sofort verpufft, sondern nachhallt. Wir nennen das intern „Viral Rockets“. Also Momente, über die Nutzer*innen auch am nächsten Tag oder Wochen später noch sprechen. Das Prinzip funktioniert nicht bei jedem Post. Aber ich bin fest überzeugt: Jede Marke braucht diese Spitzen, die Gespräche auslösen. Es geht also nicht darum, täglich auf gut Glück Content zu posten und zu hoffen, dass er hohe Reichweiten erzielt, sondern nachhaltige Inhalte zu schaffen, die überraschen, Emotionen wecken und involvieren.

Und das geht – ich sehe es jeden Tag bei uns in der Agentur: Virale Ideen entstehen dann, wenn Kreativität Struktur bekommt. Und Marken verstehen, wie Plattformmechaniken, Timing und Mut zusammenspielen.

User first, Brand second

Das grundsätzliche Problem: Die meisten Unternehmen benchmarken sich gegen andere Brands. Sie schauen, was andere Marken tun und machen’s dann ähnlich. Doch die echte Konkurrenz im Feed sind keine anderen Unternehmen, sondern Creator und Meme-Accounts.

Die wichtigste Frage, die wir uns stellen, wenn wir Content entwickeln, lautet: „Würde ich mir das privat anschauen?“ Wenn die Antwort Nein lautet, gehen wir zurück ans Konzept.

Denn Social Media funktioniert nicht markenzentriert, sondern nutzerzentriert. Nicht CI-konform, sondern community-first. Nicht Werbung, sondern Entertainment zieht. Marken, die sich selbst ins Zentrum stellen, verlieren. Diejenigen, die die User*innen in den Fokus rücken, gewinnen.

Die zweite Frage, die wir uns bei der Konzeptentwicklung stellen, lautet deshalb: “Würde ich mit dem Video interagieren? Würde ich es teilen, abspeichern, weiterschicken?” Likes, Shares, Saves – alles, was das Engagement hochhält, ist die wichtigste Währung. Und die bekommt man nur, wenn der Inhalt echten Mehrwert oder Unterhaltung liefert.

Wir unterscheiden in diesem Zusammenhang auch zwischen drei Leveln an Kreativität:

Level 1 – Basic: Katzen und Hunde im Content, Memes, simple Produktintegration. Eine sichere Nummer, aber austauschbar.

Level 2 – Trend-Driven: Man springt auf virale Momente auf. Bringt kurzfristige Reichweite, aber selten nachhaltige Relevanz.

Level 3 – Unhinged: Mutig, nativ, Community-driven. Hier entstehen die Inhalte, über die gesprochen wird.

Die meisten Marken bewegen sich irgendwo zwischen Level 1 und 2. Doch die echten Gamechanger passieren auf Level 3 in der Native Zone – da, wo Regeln gebrochen werden oder sich Marken trauen, außerhalb der Komfort-Zone Inhalte zu kreieren. 

Think outside the box

Das Problem vieler Brands ist nicht, dass sie nicht kreativ genug sind, sondern dass sie zu vorhersehbar sind: Eine Food Brand zeigt natürlich Rezepte. Eine Hotelkette zeigt ihre schönsten Zimmer. Ein Schmucklabel zeigt Ästhetik. Und irgendwo dazwischen: das obligatorische Gewinnspiel. Das Ergebnis? Austauschbarer Content im Feed. Immer gleiche Motive, gleiche Tonalität, gleiche Sicherheitsschleifen durch Brand Guidelines und interne Freigaben.

Doch wenn alles gleich aussieht, scrollen User*innen weiter. Aufmerksamkeit entsteht dort, wo etwas anders ist. Wo Marken sich trauen, zu überraschen, zu irritieren oder die Regeln zu brechen.

Wie stark dieser Ansatz funktioniert, zeigt das Beispiel Gerolsteiner: Eine Influencerin machte auf TikTok ein Video, in dem sie das Wasser der Marke regelrecht zerreißt – Millionen Views, tausende Kommentare. Statt mit einer PR-Statement zu reagieren oder das Ganze auszusitzen, lud das Unternehmen sie kurzerhand in die Eifel ein, direkt an die Quelle. Kurz darauf hatte die Marke nicht nur ein potenzielles Imageproblem entschärft, sondern eine kleine Social-Story geschaffen, über die alle sprachen. Das Besondere daran: Die Influencerin blieb ehrlich. Sie sagte am Ende nicht plötzlich „Wow, schmeckt doch super!“, sondern blieb bei ihrer Meinung – mal kritisch, mal positiv überrascht. Genau das macht den Content so glaubwürdig. Gerolsteiner hat sie nicht gekauft, sondern eingeladen und damit Authentizität gewonnen.

Marken, die die Komfortzone verlassen und Mut haben, Humor zeigen, über sich selbst lachen oder bewusst die eigene Rolle brechen und anders denken als der Wettbewerb, erzeugen Nähe statt Distanz. Menschen spüren, wenn etwas unerwartet, ehrlich oder absurd ist. Und genau das bleibt langfristig hängen.

Adapt, don’t copy

Kreativität bedeutet nicht, das Rad immer neu erfinden zu müssen. Sie bedeutet auch, Bekanntes zu verstehen und es so neu zu kombinieren, dass es im richtigen Moment aufregend wirkt.

Viele Marketer denken beim Thema „Trend“ an stumpfes Reagieren: Ein virales Audio, ein Meme, ein Filter – sie springen darauf auf, solange der Hype anhält (oder sogar zu spät). Erfolgreiche Marken tun etwas anderes: Sie adaptieren. Sie greifen bekannte Formate oder Mechanismen auf und übersetzen sie in ihre eigene Markenlogik.

Das kann eine Mockumentary im Stil von The Office sein, die plötzlich Employer Branding greifbar macht – wie wir das beispielsweise bei Lidl gemacht haben. Oder eine Crime-Doku-Parodie im Spiegel TV-Look, die ein Produkt-Hype-Phänomen aufgreift – wie bei unserem Kunden Tedi. Beide Cases funktionieren, weil sie die DNA eines Formats nehmen, das die Zielgruppe kennt, und es neu interpretieren.

Das Prinzip dahinter ist simpel, aber stark:
Bekanntes Format × neue Idee × Markenrelevanz = Wiedererkennung + Überraschung.

So entsteht dieses „Kenn ich, aber so hab ich’s noch nie gesehen“-Gefühl. Genau das triggert Viralität. Wer Popkultur versteht und sie in seine Marke übersetzt, gewinnt Reichweite mit System, nicht durch Zufall.

Übrigens: Das Ganze gilt längst nicht nur für organischen Content. Denn auch im Paid-Kontext müssen sich Marken im Feed gegen Creator, Memes und Trends behaupten. Paid darf – und sollte – deshalb genauso unterhalten wie Organic. Denn am Ende geht es immer um dasselbe Prinzip: Menschen scrollen nicht für Marken. Sie scrollen für Emotionen, Überraschung und Unterhaltung. Und wer das verstanden hat, kann Reichweite planen – nicht dem Zufall überlassen.